Kürzlich ist Glennon Doyles neues Buch „Ungezähmt“ erschienen. Es ist ein Plädoyer an Frauen, ganz sie selbst zu sein, damit aufzuhören, sich zu vernachlässigen, um den Erwartungen anderer gerecht zu werden und damit anzufangen, sich selbst zu vertrauen. Es handelt davon, was alles möglich ist, wenn Frauen ihr wahres Wesen leben, sich so zeigen, wie sie sind und sich das Leben schaffen, das ihnen ganz und gar entspricht. Am Buchdeckel ist zu lesen: „Hör auf, gefallen zu wollen, und fange an zu leben.“
Es gibt eine Stelle im Buch, die mich besonders inspiriert hat, weil sie mit anderen Worten zum Ausdruck bringt, was wir in der Kunsttherapie als "gestalten" bezeichnen: „Wir wurden alle geboren, um etwas in die Welt zu bringen, das vorher nicht existierte: eine Art zu sein, eine Familie, eine Idee, Kunst, eine Gemeinschaft – etwas völlig Neues. Wir sind hier, um uns selbst vollkommen sichtbar zu machen, um uns und unsere Ideen und Gedanken und Träume der Welt aufzudrängen, sie durch das, was wir sind und was wir aus unseren Tiefen hervorbringen, unwiderruflich zu verändern. Deshalb können wir uns nicht winden und krümmen und kleinmachen, um uns in die sichtbare Ordnung zu zwängen. Wir müssen uns entfesseln und dabei zusehen, wie die Welt sich vor unseren Augen neu ordnet.“
(Glennon Doyle, Ungezähmt, in der deutschen Übersetzung Hamburg 2020, S. 79)
Es geht hier um die Aktivierung der eigenen Schöpferkraft, darum, zu erkennen, wer man im Grunde seines Wesens ist und das im eigenen Leben zum Ausdruck zu bringen. Wir sind hier, um zu gestalten, unsere Bilder, unser Leben und uns selbst. Es gibt zwar Phasen, in denen wir wenig Zugang zu dieser Kraft in uns haben, aber sie ist immer vorhanden und bereit, wieder entdeckt zu werden.
Kunsttherapie ist ein sanfter und zugleich kraftvoller Weg, die eigene Schöpferkraft wieder zu aktivieren
Wenn wir mit Formen, Farben und unterschiedlichen Materialien gestalten, nützen wir dieselbe kreative Kraft, mit der wir auch unser übriges Leben erschaffen. Wir gestalten in unserem Leben ständig: unsere Beziehungen, unsere Familien, unseren beruflichen Weg, unsere Freizeit und all die Geschichten, die wir uns selbst über uns und die Welt erzählen. Unbewusst schaffen wir dabei auch vieles, was uns nicht guttut. In der Kunsttherapie schauen wir uns diese schöpferischen Vorgänge genauer an, um unser Leben bewusster gestalten zu können. Wenn in der Kunsttherapie Bilder und Objekte entstehen, ist das kein „Probehandeln“. Wenn ein Bild neu entsteht oder verändert wird, passiert etwas ganz Reales. Eine direkte Handlung, die oft Mut erfordert und Neues in die Welt bringt. Wir lernen, neue Perspektiven einzunehmen und erschaffen uns neue Handlungsmöglichkeiten. Diese können dann direkt ins tägliche Leben mitgenommen werden. Wenn wir beginnen, unsere Bilder zu gestalten, gestalten wir damit gleichzeitig ganz konkret auch unser Leben.
Wenn der Lebensfluss blockiert ist…
Es gibt psychische Erkrankungen, die uns in unseren Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten einschränken. Dazu gehört die Depression, die durch ein „Losigkeitssyndrom“ geprägt: Lustlosigkeit, Antriebslosigkeit, Interesselosigkeit, Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Aussichtslosigkeit. In einer Depression ist es sehr schwer, Zugang zur eigenen Schöpferkraft zu gewinnen. Das „creare“ in uns ist verschüttet, wir fühlen uns wie erstarrt. Dennoch ist Kunsttherapie auch in der Behandlung einer Depression eine sehr förderliche begleitende Therapieform, gerade weil sie ermöglicht, in kleinen Schritten wieder aktiv zu werden. Strich für Strich, Klecks für Klecks, ganz allmählich zurück in eine größere Lebendigkeit.
Auch andauernder, negativer Stress engt uns in unseren Gestaltungsmöglichkeiten ein und verstellt den Zugang zu unserer Schöpferkraft. Wenn wir dauerhaft belastet sind, beginnt ein ganz ursprüngliches Programm in uns abzulaufen. Unser Gehirn schaltet in einem stufenweisen Prozess die evolutionär jüngsten Gehirnregionen immer mehr ab und landet schließlich in einem älteren Überlebensmodus. Dieser bot uns funktionale Antworten auf ganz existenzielle Bedrohungen wie etwa der Begegnung eines wilden Tieres. In einer solchen Situation gab es nur drei Optionen, um zu überleben: Kampf, Flucht oder Erstarren. Heute begegnet uns zwar kein Säbelzahntiger mehr, aber auch der Stress täglicher Dauerbelastungen, Überforderungen oder Traumata können dazu führen, dass wir in den Überlebensmodus geraten. Wir stehen dann extrem unter Druck und unsere Wahrnehmung verengt sich. Wir treffen keine langfristigen Entscheidungen mehr und sind nicht mehr kreativ, denn schöpferisch zu sein und aktiv zu gestalten ist dann ein Luxus, den man sich nicht mehr leisten kann. Wir reagieren, statt zu agieren.
Die Gefahren sind heute andere als in der Steinzeit und Erstarrung ist keine wirklich adäquate Antwort auf die Herausforderungen unserer Lebenswelt. Sie ist ein hinderliches Muster, das sich jedoch immer tiefer in unser Hirn einprägt, je länger es unser Lebensmodus ist. Um wieder richtig lebendig zu werden, braucht es eine Veränderung. Was ins Stocken geraten ist, muss wieder ins Fließen gebracht werden. Was erstarrt ist, muss belebt werden.
Leben ist Bewegung
Kunsttherapie hilft, die eigene Schöpferkraft zu aktivieren und wieder in Bewegung zu kommen. Und das ganz konkret. Ich kann keinen Strich auf ein Blatt Papier setzen, ohne meine Hand dabei zu bewegen. Kunsttherapie hilft, das eigene Leben wieder aktiv zu gestalten.
Nun ist es sicherlich so, dass wir uns nicht alle Bedingungen, unter denen wir leben, aussuchen können. Krankheiten, der Verlust nahestehender Menschen, Jobverlust oder pandemiebedingte Isolation usw. – es passiert uns immer wieder im Leben, dass wir uns in einer belastenden Situation wiederfinden, die wir uns nicht ausgesucht haben. Wie kann es uns aber gelingen, keine passiven Opfer äußerer Umstände zu bleiben?
Was uns immer bleibt, ist unsere innere Freiheit, wie wir damit umgehen. Wir können immer neue Möglichkeiten oder sogar Chancen in komplexen Situationen entdecken. Wir können uns entscheiden, ob wir das Leben einfach passieren lassen und lediglich versuchen, dabei nicht unterzugehen oder ob wir unseren Umgang mit Herausforderungen aktiv gestalten. Oft eröffnet dieser Perspektivenwechsel ganz neue Handlungsmöglichkeiten.
Wir schaffen uns unsere Realität selbst
Es gibt nicht die eine Realität, die für uns alle gleich ist. Wir schaffen uns unsere Realität durch die Filter, durch die wir die Welt wahrnehmen. Oder eigentlich geht es darüber hinaus, wir konstruieren uns unsere Realität mit unseren Sinnen, unseren Erinnerungen und damit, in welchen Kontext wir unsere Erfahrungen setzen.
Wir können unsere eigene Geschichte schreiben. Wir können nicht alles kontrollieren, was uns im Leben widerfährt, aber wir können die Geschichte, die wir uns darüber erzählen, kontrollieren. Wir können unsere Vergangenheit nicht ändern, aber wir können uns immer noch eine andere Geschichte darüber erzählen. Wir können in dieser Geschichte auch unseren negativen Erfahrungen einen Sinn geben. Das soll nicht dazu auffordern, die Realität zu verweigern. Aber wenn unsere Geschichten uns traurig machen, isoliert und kraftlos, können wir eine bessere Story erschaffen, nicht auf Kosten der Wahrheit, aber im Sinne von Freude und Dankbarkeit. Es gibt Geschichten, in denen wir voller Mitgefühl uns selbst und anderen gegenüber sind. Wir können Geschichten erschaffen, die uns helfen, statt uns kleinzumachen. Wir können uns dafür anerkennen, was wir alles geschafft haben und dankbar für unsere seelische Widerstandskraft sein. Auch unsere schmerzhaftesten Erfahrungen können wir neu betrachten. Wir können uns fragen, wie sie uns stärker gemacht haben. Was wir daraus gelernt haben. Worauf wir stolz sind.
„We don’t apprehend the world, but rather we construct it with our senses, our memories, and our ways of framing experience.”
(Mary Pipher, Women rowing north, United States 2019, S. 148)
Ich möchte dazu eine Übung vorschlagen, zu der mich die Lektüre von „Ungezähmt“ inspiriert hat. Es geht dabei darum, dich mit deiner Vorstellungskraft zu verbinden. Wenn du möchtest, kannst du dir in diesen besonders ruhigen Weihnachtstagen Zeit nehmen, um über folgende Frage nachzudenken:
Was ist die schönste und wahrhaftigste Geschichte über dich selbst?
Wenn wir von sollen, dürfen, richtig, falsch, gut und schlecht sprechen, drücken wir unsere Konditionierungen aus. Dann sprechen wir davon, wie wir glauben, sein zu müssen; wovon wir glauben, dass wir es uns wünschen dürfen; was wir darüber gelernt haben, wie wir sein, denken und fühlen dürfen.
Wenn wir aber imaginieren, dann aktivieren wir unsere Fantasie. Wir sprechen dann unsere eigene Sprache, wir hören ganz tief in uns hinein und fragen uns selbst: Was ist für mich selbst wahrhaftig und schön?
Wahrhaftig und schön muss dabei niemals bedeuten, dass diese Geschichte leicht (zu leben) ist. Aber sie ist authentisch und entspricht unserem Selbst.
Nimm dir also Zeit, in der du ganz für dich allein bist, werde still und erfinderisch. Was ist die schönste und wahrhaftigste Geschichte über dein Leben?
Du kannst diese Geschichte aufschreiben oder ein Bild dazu gestalten, je nachdem, was sich stimmig für dich anfühlt.
Die Geschichte, die du dir selbst erzählst, soll dich dazu ermutigen, authentisch und deinem Wesen entsprechend zu leben. Du kannst aufhören zu fragen, was die Welt von dir will und dich stattdessen fragen, was du für deine Welt willst. Du kannst dein Leben von innen nach außen gestalten.
Viel Freude beim Ausprobieren!
Manchmal sind unsere Konflikte tiefgreifend und wir in unseren Handlungsmöglichkeiten so eingeschränkt, dass wir Unterstützung brauchen, um Schwierigkeiten zu überwinden. Wenn du allein anstehst und dir Begleitung wünscht, kontaktiere mich daher gerne für einen kunsttherapeutischen Prozess. Ich helfe dir dabei, dich frei und ohne Blockaden auszudrücken. Gemeinsam schauen wir, was sichtbar wurde und suchen Worte für das Erlebte und Entstandene. Wir finden heraus, welche Antworten du darin entdecken kannst und welche Möglichkeiten sich für dich daraus ergeben.
Mein Blog soll dazu anregen, selbst zu gestalten und sich in kreativen Prozessen mit sich selbst zu verbinden. Die vorgestellten Übungen zur kreativen Selbsterfahrung sind nicht zu verwechseln mit Kunsttherapie. Kunsttherapie erfordert eine ausgebildete Kunsttherapeutin / einen ausgebildeten Kunsttherapeuten.
Ich biete trotz Covid 19 und auch während des Lockdowns Kunsttherapie 1:1 mit ausreichenden Schutzmaßnahmen in meiner Praxis an, aber auch gerne online.
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