Der informierte Leib öffnet seine Archive: Körperbilder in Kunsttherapie und Psychotherapie

 

In jedem Menschen etablieren sich im Lauf seines Lebens bestimmte Muster des Erlebens und Reagierens. Diese können sowohl hilfreich als auch dysfunktional sein, letzteres besonders dann, wenn sie unbewusst sind, jedoch in hinderlicher Weise wirken. Eine der Hauptaufgaben einer Therapie ist die Bewusstmachung und Bearbeitung dieser bislang unbewussten, aber unser Fühlen, Denken und Handeln bestimmenden Muster. Was kann diesen Erkenntnisprozess hilfreich leiten? Die dazu notwendigen Informationen sind in all den Erfahrungen zu finden, die wir bisher im Leben gemacht haben und die in uns - also in unserem ganzen leiblichen Sein- Spuren hinterlassen haben. 

 

Eine wunderbare und naheliegende Hilfe auf dem therapeutischen Weg des Verstehens des eigenen Geworden-Seins und So-Seins ist es, aus dem Wissen unseres Körpers beziehungsweise Leibes zu schöpfen. Als körperorientierte Therapieform arbeitet die Kunsttherapie grundlegend mit dem Körper und aus dem körperlichen Erleben heraus. Eine besondere Methode ist das Körperbild, welches den gestalterischen Ausdruck des eigenen Körpererlebens zum Thema hat. Auch in der Psychotherapie kann es hilfreich und förderlich den Therapieprozess um eine äußerst relevante Dimension bereichern.

 

Ganz allgemein gesprochen geht es bei der Arbeit mit dem Körperbild darum hinzuspüren, wie der eigene Körper erlebt wird, wie dieses Erleben sichtbar gemacht werden kann, welchen Eindruck dieser gestalterische Ausdruck rückwirkend macht und wie mit diesen Erkenntnissen förderlich weitergearbeitet werden kann.

 

Die therapeutische Arbeit mit dem Körperbild geht von der Grundannahme aus, dass alle relevanten Erfahrungen, die wir in unserem Leben machen, in unserem Gehirn abgespeichert und verleiblicht sind. Wir gewinnen Erfahrungen aus unserem Erleben der Welt und unseren Reaktionen darauf, was schlicht bedeutet: wir nehmen wahr, wir reagieren, wir speichern ab. Erfahrungen sind komplex: sie bestehen aus Bildern, Geräuschen, Gerüchen, körperlichen Berührungen (angenehme und unangenehme) und den leiblichen Reaktionen auf diese Einwirkungen. All das wird kognitiv geprüft und emotional bewertet (Lust, Schmerz, Angst, Freude, Wut usw.), im Großhirn gespeichert und ist mit den entsprechenden Empfindungs- und Reaktionsmustern im muskulären Bereich verschaltet. Gemachte Erfahrungen wandern gleichsam „von außen nach innen“ in die Gedächtnisspeicher des Leibes.

 

Was neurowissenschaftlich intensiv erforscht wird, jedoch noch weit von einer Klärung entfernt ist, wird in der Integrativen Therapie, meiner psychotherapeutischen Fachrichtung, als Informierter Leib bezeichnet und soll uns hier als sehr vereinfachtes Modell dienen. Unter Leib verstehen wir weitaus mehr als den physikalischen Körper oder biologischen Organismus – er meint uns in unserer Ganzheitlichkeit als Körper-Psyche-Geist-Welt-Wesen in unserem sozioökologischen Kontext und unserer Lebensspanne. Der Begriff Leib ist damit komplexer als der Begriff Körper und kommt daher in seiner Umfänglichkeit der Vielschichtigkeit unserer Wirklichkeit näher. 

 

Erleben wir etwas häufig und reagieren wir darauf oft in ähnlicher Art und Weise, so haben diese Reaktionen mit der Zeit die Tendenz, sich zu generalisieren und für unser Selbsterleben beziehungsweise unser eigenleibliches Spüren (und auch Nicht-Spüren) bestimmend zu werden – sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht. Leiden wir etwa langanhaltend an Stress, kann sich dieser in chronischen Rückenschmerzen manifestieren. Das Wirkprinzip körperorientierter Therapieformen ist unter anderem in der Arbeit mit solchen Dynamiken zu suchen und zu finden, wie ich es anhand der Besprechung von Körperbildarbeit anschaulich machen möchte.

 

Über das Gestalten von Körperbildern können wir in Bereiche hin spüren, die uns im Gespräch nicht oder kaum zugänglich werden. Wir nützen den körperlichen Ausdruck im Gestalten, um im Körper gespeicherte Erfahrungen sichtbar werden zu lassen. Wir öffnen die Archive des Leibes, was bedeutet, wir nützen die Informationen, die unser „informierter Leib“ bereithält.

 

Von der Annahme ausgehend, dass alle relevanten Informationen im Körper gespeichert sind, auch jene, die den Aufbau von dysfunktionalen Mustern zur Folge hatten, können wir im eigenleiblichen Hinspüren Bereiche der Verspannung, des Schmerzes, der Missempfindung oder des Nicht-Empfindens auffinden. Durch das Lenken unserer Aufmerksamkeit genau dorthin bringen wir diese Zonen zur Resonanz. Das bedeutet, Szenen und Atmosphären in die Erinnerung und ins Bewusstsein treten zu lassen und damit zu beginnen, ursächliche Zusammenhänge zu verstehen. In der Kunsttherapie wird dieser Vorgang vom Gestaltungsprozess getragen, wie ich im Folgenden näher ausführen möchte.

 

Um ein Körperbild zu gestalten, wird zunächst der Umriss des eigenen Körpers in realer Größe auf ein großes Blatt Papier gemalt, entweder frei gezeichnet, oder indem die Therapeutin den Umriss des liegenden Körpers der Klientin nachzeichnet. Dem eigenen leiblichen Empfinden entsprechend wird die entstandene Form nun weiter ausgearbeitet: mit Farben und Formen werden einzelnen Körperregionen im Hinspüren Empfindungen und Gefühle zugeordnet und ausgestaltet. Dabei wird das entstehende Körperbild „aus den Archiven des Leibgedächtnisses angereichert durch projektives Material“ (siehe Literaturangabe unten, S. 12). Was hier kompliziert klingt, passiert wie von selbst, indem wir  spontan und intuitiv die Hände machen lassen - ohne zu werten und mit Offenheit für das, was sich zeigt. 

 

Eine mögliche Variante ist es, nur einzelne Bereiche des Körpers zu gestalten, etwa das Gesicht, die Hand oder die Füße. Die genaue Vorgehensweise ist immer dem individuellen therapeutischen Prozess anzupassen.

 

Während dieser Suche nach Material, nach Resonanzen im Leibgedächtnis, treffen wir auf Bekanntes und auf bisher Verborgenes – Gewusstes, aber kaum Beachtetes, Verdrängtes oder Neues. Es können dabei auch ungeahnte Schätze geborgen werden.

 

Es werden leibliche Resonanzen wie Verspannungen, Schmerzen, Druck, Empfindungslosigkeit, Belebtheit, Kraft oder Vitalität spürbar und sichtbar. Es können Bilder vergangenen Erlebens auftauchen, Kraftspendendes (wieder) entdeckt, Konfliktreiches erkannt und Wünsche entwickelt werden.

 

Das so entstandene Körperbild enthält bewusste und unbewusste Anteile beziehungsweise Botschaften der Klientin: von sich selbst, über sich selbst, für sich selbst und für andere (die es betrachten, etwa die Therapeutin oder andere Gruppenmitglieder).

 

Die Methode Körperbild muss mit großer Achtsamkeit begleitet werden, im Wissen um die große emotionale Bewegtheit, die in der Klientin während des Prozesses aktiviert werden kann und auch im Bewusstsein darüber, dass das Körperbild als Teil der eigenen Leiblichkeit und damit als äußerst intim empfunden wird.

 

Eine zentrale Rolle in der Gestaltung des eigenen Körperbildes spielt das verwendete Material. Feste Farben wie Kreiden oder Buntstifte ermöglichen mehr Kontrolle und die Ausübung von größerem Druck als etwa flüssige Farben wie Aquarell und Acryl. Erstere sind vielen Menschen vertrauter, gewohnt und werden als recht vorhersehbar in der Verwendung eingeschätzt, wohingegen letztere gemäß ihrer natürlichen Qualität fließen, damit weniger kontrollierbar sind, oft auch ungewohnter und leichter tiefere Ebenen des Erlebens eröffnen. Die Wahl des Materials und seine sinnlichen Eigenschaften beeinflussen den kunsttherapeutischen Prozess ganz entscheidend und ermöglichen unterschiedliche Qualitäten des Ausdrucks und des eigenen Erlebens.

 

 Bild oben: Maria Lassnig, Der rote Zorn, 1984.

 

In der Betrachtung eines entstandenen Körperbildes gehen wir wiederum von den eigenen leiblichen Resonanzen auf die Gestaltung aus:

Wenn Sie jetzt auf Ihre Gestaltung als Ganzes schauen, welche Resonanz kommt in Ihnen auf?

Welche Wirkung hat Ihre Gestaltung auf Sie, was löst sie in Ihnen aus?

Welche Empfindung und Gefühle nehmen Sie wahr?

Welche Gedanken, Erinnerungen und Bilder steigen in Ihnen auf? 

 

Nun kann anhand dieser Fragen weiter gemeinsam nach Zusammenhängen und der Aufdeckung dysfunktionaler Muster geforscht, aber auch der vertiefenden Bewusstmachung positiver, sehr funktionaler, Muster Raum gegeben werden.

 

Abgespeicherte Muster werden durch die Aktivierung wieder verfügbar, alte Strukturen kommen in Bewegung, können kognitiv neu eingeschätzt und emotional neu bewertet werden und in der weiteren therapeutischen Arbeit verändert werden bzw. förderliche Muster gänzlich neu gebildet: in der Kunsttherapie in neuen Gestaltungen, in der Psychotherapie zusätzlich durch Atemübungen, Entspannungsübungen, Veränderungen des Lebensstils und vieles mehr. Über eine längere Zeit durchgeführt, können so neue und hilfreiche Muster des Erlebens, Fühlens, Spürens und Handelns einverleibt werden. 

 

Ganz zentral ist, dass die Arbeit mit Körperbildern innerhalb einer tragfähigen und vertrauensvollen therapeutischen Beziehung passiert. Erst im zwischenmenschlichen Verstanden- und Angenommenwerden kann das eigene Erleben mit neuen heilsamen atmosphärischen Qualitäten erfüllt werden.

 

Ich möchte abschließend auf eine bedeutende österreichische Malerin verweisen, deren Bild "Zwei Arten zu sein (Doppelselbstporträt)", im Jahr 2000 entstanden, am Beginn meines Beitrags steht: Maria Lassnig (1919 - 2014). Ihre Körperbewusstseinsmalerei zeigt einen künstlerischen Zugang zur Beschäftigung mit dem eigenen Körperbild. Maria Lassnig malte Schmerzen, Gedanken, Blut und Atem, was auch immer sie verspüren konnte, was sie hingegen nicht leiblich wahrnehmen konnte, ließ sie aus. Sie malte ihren Körper nicht als Abbild, sondern aus ihrem körperlichen Empfinden heraus. Sie malte dabei nicht nur die großen Gefühle wie Trauer, Schmerz, Freude oder Glück, sondern auch subtile, häufig wenig beachtete Empfindungen wie Druck, Spannung oder Ausdehnung. Ich trete gleichsam nackt vor die Leinwand, ohne Absicht, ohne Planung, ohne Modell, ohne Fotografie, und lasse es entstehen […] das einzig mir wirklich Reale (sind) meine Gefühle, die sich innerhalb meines Körpergehäuses abspielen“, so Lassnig.

 

Ich hoffe mit meinen Ausführungen das Interesse an dem zu wecken, was die Archive des Leibes bereithalten, um es förderlich zu nützen, hinderliche Muster des Erlebens zu erkennen und zu verändern und hilfreiche Muster zu etablieren.

 

Unseren Leib in seiner Ganzheit in die Therapie einzubeziehen erscheint mir nicht nur sinnvoll, sondern unabdingbar, um unser volles Potenzial auszuschöpfen – nicht zuletzt, um nicht gegen, sondern mit unserem Körper freudvoll und erfüllt zu leben.

 

 

 

Weiterführende Literatur: Hilarion Petzold, Ilse Orth: Interozeptivität/Eigenleibliches Spüren, Körperbilder/Body Charts – der „Informierte Leib“ öffnet seine Archive: „Komplexe Resonanzen“ aus der Lebensspanne des „body-mind-word-subject“, in: Polyloge. Eine Internetzeitschrift für „Integrative Therapie“ (2017)

 Manchmal sind unsere Konflikte tiefgreifend und wir in unseren Handlungsmöglichkeiten so eingeschränkt, dass wir Unterstützung brauchen, um Schwierigkeiten zu überwinden. Wenn Sie alleine anstehen und sich Begleitung in Form von Psychotherapie oder Kunsttherapie wünschen, kontaktieren Sie mich gerne.

 

 Wenn Sie meine Blogbeiträge regelmäßig per mail erhalten möchten, schicken Sie mir bitte mit dem untenstehenden Formular Ihre mail-Adresse. Danke!

 

Hinweis: Bitte die mit * gekennzeichneten Felder ausfüllen.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0