Ich arbeite seit mehreren Jahren als Kunsttherapeutin und seit Anfang dieses Jahres auch in einer psychiatrischen Tagesklinik für Personen mit Suchterkrankung mit dem Schwerpunkt Alkoholkonsumstörung. Im Gruppen- und Einzelsetting begleite ich unsere Patient:innen jeweils über einige Wochen hinweg in zeitlich betrachtet kurzen aber intensiven kunsttherapeutischen Prozessen, welche Teil eines vielfältiges Behandlungskonzepts sind. Es ist mir ein Anliegen, meine große Freude an der Kunsttherapie in diesem klinischen Setting zu teilen und über ihre Wirksamkeit zu schreiben.
Ich begleite oftmals faszinierende Prozesse, in denen die eigene Gestaltungkraft mit großer Freude (wieder-) entdeckt wird, in denen Gefühle, Empfindungen, Bedürfnisse, Konflikte, Ressourcen, Wünsche und Hoffnungen ausgedrückt und erforscht werden. In denen aus Enge wieder Weite, aus Starre und zwanghafter Fixierung wieder Bewegung wird. Wo experimentiert wird, wo Risiken eingegangen und ungeahnte eigene Anteile entdeckt werden. Wo auch Schwieriges sich zeigen darf, Solidarität erfahren wird und ein Mensch wieder in Verbindung geht - mit sich selbst und mit anderen.
Die Herausforderungen der Alkoholabhängigkeit
Alkoholabhängigkeit ist eine chronische und komplexe Erkrankung, die oft mit psychischen, physischen und sozialen Problemen einhergeht. Betroffene leiden unter einem starken Verlangen nach Alkohol und haben oft Schwierigkeiten, ihren Konsum zu kontrollieren. Die Ursachen für Alkoholabhängigkeit sind vielschichtig und beinhalten genetische, psychologische und soziale Faktoren. Häufige Komorbiditäten der Alkoholabhängigkeit sind Depressionen und Angststörungen. Bereits vorhandene psychische Probleme können durch den Alkoholkonsum verstärkt werden und weitere hinzukommen, was wiederum den Weg aus der Sucht erschwert.
In der Behandlung von Suchterkrankungen hat sich ein komplexes Therapieangebot, das sich durch Vielfalt hinsichtlich des Settings, der Methoden und Inhalte kennzeichnet, bewährt. Dies zum einen, um den individuellen Bedürfnissen einer in sich heterogenen Gruppe von Patient:innen gerecht zu werden und zum anderen, um den Menschen ganzheitlich in den Blick zu nehmen. Die Kunsttherapie hat sich in diesem Kontext als eine sehr wertvolle therapeutische Methode in der Suchtbehandlung erwiesen.
Alkoholabhängige Menschen befinden sich oft in einem Teufelskreis, in dem sie ihre Emotionen mit Alkohol betäuben, um Schmerzen und Probleme zu vermeiden, nur um diese durch die Folgen des Alkoholkonsums noch zu verschlimmern. Die Konfrontation mit den eigenen Gefühlen, Wünschen und Ängsten in der Behandlung kann eine große Herausforderung darstellen, da sie oft über Jahre hinweg unterdrückt wurden. Hier setzt die Kunsttherapie an und bietet einen kreativen und sicheren Raum für die Auseinandersetzung mit diesen Themen.
Kunsttherapie als Weg der Selbstentdeckung
In der Kunsttherapie steht der kreative Prozess im Vordergrund. Es geht darum, sich selbst nicht zu bewerten und zu kontrollieren, sondern alles Müssen und Sollen sein zu lassen. Stattdessen begleite ich die Patient:innen dabei, zu spüren und intuitiv den eigenen Impulsen zu folgen. Die Hände dürfen einfach machen. Über das Gestalten mit Farben, Kreiden, Ton, Collagen und anderem wird es möglich, sich mit der inneren Welt zu verbinden und dem eigenen Erleben Ausdruck zu verleihen. So kann auch das, wofür es (noch) keine Worte gibt, in Form und Farbe sichtbar werden, so können neue Sichtweisen auf eigene Themen eingenommen, neue Möglichkeiten entdeckt und die eigene Gestaltungskraft erfahren und gefördert werden.
In der Kunsttherapie mit alkoholabhängigen Menschen kann es gelingen, Zugang auch zu verborgenen Gefühlen, Erfahrungen und Gedanken zu finden, die oft durch den Konsum von Alkohol unterdrückt oder verdrängt wurden. Oft werden dabei Ausdrucksformen gefunden für etwas, das verbal nicht oder kaum beschrieben werden kann, das unaussprechlich oder ambivalent ist. Kunsttherapeutische Prozesse können dabei helfen, auch bislang tief Verborgenes mit der Zeit zu entdecken, zu erforschen und zu integrieren.
Das kann Freude machen, entlastend sein und manchmal auch herausfordernd. Es geht dabei nicht darum, schöne Bilder zu gestalten, sondern darum, sich im Gestalten selbst zu spüren, den eigenen Impulsen zu folgen, spontan zu sein und auch Neues zu wagen. In der gemeinsamen Betrachtung innerhalb der Gruppe werden der Gestaltungsprozess und das sichtbar Gewordene reflektiert, nach Möglichkeit in Worte gefasst und auch den Resonanzen der anderen Gruppenmitglieder Raum gegeben.
Die dem Material innewohnende Möglichkeit der Veränderung
In der Kunsttherapie ist das künstlerische Material von zentraler Bedeutung. Es ermöglicht Gestaltung, es trägt den therapeutischen Prozess, es ist in der kunsttherapeutischen Triade neben Gestalter:in und Therapeut:in das zentrale Dritte im Bunde. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit für wechselseitige Beziehungsaufnahmen: es drückt sich darin etwas aus, mit ihm wird etwas sichtbar, wir können es in der Therapie gemeinsam betrachten.
Aus ungeformtem Material entsteht eine Gestaltung, von der man anfangs vielleicht noch gar nicht weiß, wie sie aussehen wird. Diese Tatsache, dass sich ungeformtes Material transformiert in etwas Anderes, das ist, wie der Kunsttherapeut Uwe Hermann es treffend ausdrückt, eine Materie gewordene Metapher, nämlich für die Möglichkeit von Veränderung, und zwar zum Besseren hin. Diese Tatsache, dass künstlerisches Schaffen die Möglichkeit der Veränderung a priori in sich trägt, ist zentral in der Arbeit mit Menschen, die die Hoffnung auf eine gute Entwicklung vielleicht fast schon aufgegeben haben.
Ich verfolge in der Kunsttherapie einen non-direktiven Ansatz. Das bedeutet, ich gebe keine Themen und kein Material vor sondern unterstütze mit meinem sehr offenen Zugang die Patient:innen dabei, selbst Gestaltungsimpulse zu erspüren und diese umzusetzen. Damit fördere ich ihren Selbstbezug und ihre Selbstwirksamkeit.
Ein kreativer Prozess ist etwas sehr Komplexes und kann herausfordernd sein. Er startet mit der Materialauswahl und setzt sich fort im Dialog mit einem zunächst weißen Blatt oder einem ungeformten Klumpen Ton. Es muss ein Umgang mit den eigenen Erwartungen und dem eigenen Urteil gefunden werden. Eigene Grenzen werden erkannt und innere Hindernisse bremsen oder werden überwunden. Nach dem Wechselspiel aus Ausdruck und Eindruck muss irgendwann ein zumindest vorläufiger Schlusspunkt gefunden werden. Im Ringen mit der Form entstehen Kräfte, das Ich wächst am Widerstand. Im schöpferischen Gestalten wirkt der Mensch mit den gleichen Kräften wie im übrigen Leben. Genau diese Gestaltungkraft muss gefördert werden, wenn die Notwendigkeit besteht, dem Leben eine neue Richtung zu geben.
Eine klare therapeutische Haltung und ein sicherer Rahmen
Um bei einem non-direktiven Ansatz Überforderung zu vermeiden, sind klare Rahmenbedingungen und eine achtsame therapeutische Haltung und Begleitung zentral. Ich gebe daher gut verständliche Erklärungen zur Kunsttherapie, zum Ablauf einer therapeutischen Einheit und zu den Materialien und schaffe einen vertrauensvollen und geschützten Raum, in dem sich die Teilnehmenden öffnen können.
Zentral sind eine nicht wertende, akzeptierende und respektvolle Haltung. Diese ist meines Erachtens in jeder therapeutischen Begleitung wichtig, für alkoholabhängige Personen, die oft mit Scham- und Schuldgefühlen kämpfen, ist ein akzeptierender Ansatz essentiell.
Schließlich unterstütze ich dabei, den Gestaltungsprozess sowie das sichtbar Gewordene zu reflektieren und eigene Bedeutungen in den Bildern und Objekten zu finden. Das Angebot zur gemeinsamen Reflexion lädt dazu ein, Neugierde auf sich selbst zu bekommen und neue Erkenntnisse zu gewinnen. Ein entstehendes Bild beinhaltet und spiegelt immer auch unbewusste innere Prozesse. Als Kunsttherapeutin analysiere ich nicht, sondern gehe gemeinsam mit den Patient:innen auf Entdeckungsreise. Achtsam und ohne zu werten blicken wir gemeinsam auf das, was entstanden ist und finden heraus, welche Antworten darin liegen und welche Möglichkeiten sich daraus ergeben.
Wie wirkt Kunsttherapie in der Suchtarbeit?
Kunsttherapie kann auf mehreren Ebenen positive Effekte auf Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit haben. Ich möchte im Folgenden einige davon besonders hervorheben:
Selbstbegegnung und Selbstakzeptanz
Viele Menschen mit einer Suchterkrankung neigen dazu, ihre Emotionen durch Alkohol zu unterdrücken. Ein häufiges Thema sind ein geringer Selbstwert und starke Schamgefühle. In der Kunsttherapie kann es gelingen, die eigenen Gefühle anzuerkennen, ohne sich dafür zu verurteilen. Es wird ein alternativer Weg gefunden, mit belastenden Emotionen umzugehen, anstatt sie durch Alkohol zu betäuben. Dieses Erkennen und Anerkennen dessen, was ist, ist die Grundlage für eine mögliche Veränderung. Denn wir können nur das verändern, was wir nicht mehr vor uns selbst verleugnen. So kann Kunsttherapie einen besseren Zugang zu und auch eine liebevollere Akzeptanz von sich selbst fördern.
Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung fallen mitunter durch eine wenig differenzierte Körper- und Gefühlswahrnehmung auf. Affekte und Empfindungen sind für Betroffene oft diffus überflutend, schwierige Gefühle bedrohlich und sollen deshalb weg. Worte für inneres Erleben zu finden ist schwierig. Im Kontakt mit dem Material wie etwa Ton oder Pastellkreide kann das eigenleibliche Spüren gefördert und somit der eigene Körper wieder ganzheitlicher und differenzierter wahrgenommen und im besten Fall auch angenommen werden. Kunsttherapie kann, neben anderen Therapieformen, bei der "Wiederentdeckung" des Körperbewusstseins förderlich sein. Auch in der Betrachtung der entstandenen Gestaltung versuchen wir hinzuspüren: Wie ist es, wenn das Bild oder das Objekt betrachtet werden, was ist dabei leiblich wahrzunehmen, wo spürt sich das wie an? Das ist zunächst keine leichte Übung, aber mit jedem zaghaften Hinspüren wird das eigene Sensorium für die Wahrnehmung von Empfindungen geschärft.
Förderung von Kommunikations- und Beziehungsfähigkeit
Zentral ist auch die Erfahrung einer empathischen Begegnung in einem geschützten Rahmen, in welchem das eigene Erleben sichtbar und wo darüber gesprochen werden kann. In unserer Klinik haben wir die wunderbare Möglichkeit, dass Kunsttherapie sowohl im Einzel- als auch im Gruppensetting stattfindet. In beiden Settings, aber besonders in der Gruppentherapie, können unsere Patient:innen ihre soziale Kompetenz wiedererlangen und das Gefühl von Isolation überwinden, welches viele von ihnen aufgrund ihrer Sucht empfinden. Die gemeinsamen kreativen Prozesse bieten eine Möglichkeit, sich auf eine neue Art zu begegnen, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen und positive soziale Erfahrungen zu machen. Es wird Solidarität erfahren, Einsamkeit zumindest teilweise aufgehoben und Gemeinschaftlichkeit erlebt. Das Gegenteil von Sucht ist nicht Abstinenz, sondern Verbindung.
Das Leben wieder selbst gestalten
Die Sucht hat wichtige Funktionen übernommen und viel Platz im Leben eingenommen – wie kann das Leben ohne Alkohol nun aussehen? Wie kann das eigene Leben gestaltet werden, ohne Suchtmittel? Kunsttherapie kann Menschen mit Alkoholabhängigkeit dabei helfen, ihre Vergangenheit auf eine neue Art zu betrachten und positive Veränderungen zu initiieren. Sie erhalten die Möglichkeit, sich mit ihrer Sucht auseinanderzusetzen, sich ihre Ressourcen zu vergegenwärtigen und neue Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln. Wie kann das Leben wieder Sinn erhalten und sinnlich werden?
Der Verzicht auf das Suchtmittel gelingt dann am ehesten, wenn das Leben zumindest in manchen Bereichen wieder aktiv und freudvoll erlebt werden kann. Die Entdeckung der eigenen Kreativität kann eine Strategie sein, dem Suchtmittel zu widerstehen. Nicht wenige Patient:innen besorgen sich bereits während des tagesklinischen Aufenthalts Kreiden, Acrylfarben und andere Materialien, weil sie ihre Freude an der eigenen Kreativität auch zu Hause ausleben möchte. Das Erleben der eigenen schöpferischen Kraft bedeutet oft, bislang ungelebte oder wiederentdeckte Persönlichkeitsanteile ins eigene Leben zu integrieren. Es wird möglich, sich in neuen Facetten zu erfahren. Durch den kreativen Ausdruck kommt es zu neuen Eindrücken und positiven ästhetische Erfahrungen, etwa zu einem vage positiven Gefühl beim Gestalten, wenn das Bild von anderen nicht abgewertet, sondern in seinem individuellen Ausdrucksgehalt geschätzt wird.
Kunsttherapie als sanfter und zugleich kraftvoller Prozess
Die Behandlung von Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit ist oft mühsam und herausfordernd und kann sowohl die Betroffenen als auch die Behandler:innen an ihre Grenzen bringen. Kunsttherapie stellt eine äußerst wertvolle Komponente in der Suchtbehandlung dar und trägt zum Heilungsprozess bei.
Sie kann dabei unterstützen, aus einer krisenhaften Einengung wieder in die Weite zu kommen und helfen zu erkennen, worauf wir zurückgreifen können. Sie fokussiert nicht die eigenen Defizite sondern macht sichtbar, was alles da ist.
Wenn in der Kunsttherapie ein Bild oder ein Objekt entstehen, ist das kein "Probehandeln". Im Gestalten passiert etwas ganz Reales. Eine direkte Handlung, die Mut erfordert und Neues in die Welt bringt. Wir lernen dabei, neue Perspektiven einzunehmen und erschaffen uns neue Handlungsmöglichkeiten. Diese können dann direkt ins tägliche Leben einfließen. Wenn wir mit Formen und Farben gestalten, nützen wir dabei dieselbe kreative Kraft, mit der wir auch unser übriges Leben erschaffen. Wenn wir beginnen, unsere Bilder zu gestalten, gestalten wir damit gleichzeitig ganz konkret auch unser Leben.
Denn wir sind hier, um zu gestalten: unsere Bilder, unser Leben und uns selbst.
Anmerkung: Die Bilder zeigen Gestaltungen aus der Kunsttherapie, welche freundlicherweise von den Patient:innen zur anonymisierten Veröffentlichung freigegeben wurden.
Manchmal sind unsere Konflikte tiefgreifend und wir in unseren Handlungsmöglichkeiten so eingeschränkt, dass wir Unterstützung brauchen, um Schwierigkeiten zu überwinden. Wenn Sie alleine anstehen und sich Begleitung in Form von Psychotherapie oder Kunsttherapie wünschen, kontaktieren Sie mich gerne.
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